Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
N°3/2024
i

Auftrittsängste und Gesundheit sind immer noch ein Tabu

In der eindrucksvollen Reportage «Musizierende brechen ein Tabu – Karriere auf Kosten der Gesundheit» hat das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) im Mai 2024 aufgezeigt, wie stark Musizierende unter Leistungsdruck stehen und wie sehr sie einem harten Konkurrenzkampf ausgeliefert sind. Professionelle Musiker*innen zahlen einen hohen Preis, um von ihrer Musik leben zu können. Im Gegensatz zum Spitzensport ist ihre psychische Gesundheit im Berufs­leben wenig thematisiert.

Text

ist seit 2022 Professor für Musizierendengesundheit an der Musikhochschule Lübeck sowie der Universität zu Lübeck. Scholz studierte in Marburg Psychologie und in Osnabrück Jazz-Kompo­sition mit Ergänzungsfach Jazz-Gitarre. Zudem promovierte er am Zentrum für Systemische Neurowissenschaften in Hannover und approbierte dort als psychologischer Psychotherapeut mit der Fachrichtung Verhaltenstherapie. Seine Forschungsinteressen liegen in der Psychologie, den Neurowissenschaften, der Psychotherapie und der Komposition.

Die SRF-Reportage begleitet Anaïs Chen, deren Finger der linken Hand von einer fokalen Dystonie, dem sogenannten Musikerkrampf, betroffen sind. Jahrelang ging bei der Schweizer Violinistin alles gut. Doch nun steht die Karriere der international renommierten Künstlerin für Alte Musik auf dem Spiel. Gegenüber SRF Reporter bricht sie ein Tabu und zeigt ungeschönt, was es bedeutet, wenn bei einer Profimusikerin die Motorik und die Psyche nicht mehr mitspielen.Die Gesundheit von Studierenden in der Phase der professionellen Musikausbildung wird in Deutschland seit Jahren zunehmend besser untersucht. Viele Musizierende leiden unter gesundheitlichen Problemen wie schmerzhaften Verspannungen, eingeschränkter Bewegungsfähigkeit, Lampenfieber und Zukunftsängsten. Sie können gravierende Folgen für das Musizieren haben und im schlimmsten Fall das Ende der Karriere bedeuten.Manfred Nusseck und die Kolleg*innen aus Freiburg führten 2017 eine multizentrische Längsschnittstudie durch und untersuchten das Gesundheits- und Präventionsverhalten von Musikstudierenden an deutschsprachigen Musikhochschulen. An dieser Studie nahmen 288 Musikstudierende von fünf Musikhochschulen teil. Die Ergebnisse dieser Studie zeigten, dass der Grundstein für gesundes Musizieren und das Präventionsverhalten bereits in der Ausbildung an der Musikhochschule gelegt werden muss. Zudem zeigten Nusseck und die Kolleg*innen, dass an den Hochschulen selbstverständlich Multiplikator*innen ausgebildet werden, die das erlernte Gesundheitsverhalten dann in die Musikschulen weitertragen.Denn knapp 30% der befragten Musikstudent*innen gaben zum ersten Erhebungszeitpunkt bereits an, mit spielbeeinträchtigenden Beschwerden in ihr Studium gestartet zu sein. Diese Beschwerden teilten sich auf in 75% körperliche Beschwerden, 14% psychische Beschwerden und 11% körperliche und psychische Beschwerden kombiniert. Ein alarmierender Aspekt, der zum zweiten Erhebungszeitpunkt der Studie, dem dritten Semester, deutlich wurde, war, dass diese spielbeeinträchtigenden Beschwerden von knapp 30% auf 42% in der Stichprobe zunahmen. Die gute Nachricht der Untersuchung war, dass auch das Präventions- und Gesundheitsverhalten der Studierenden auch im Verlauf des Studiums stark zunahm. So nahmen zu Studienbeginn 50% der Studierenden Präventionsangebote der jeweiligen Musikhochschulen wahr. Zum dritten Semester waren es schon 80%. Diese Zahl blieb stabil bis zum vierten Erhebungszeitpunkt, dem siebten Semester.

Einschnitt durch die Corona-Pandemie
Anfang 2020 kam es zur Corona-Pandemie, diese hat auch Musiker*innen stark getroffen und deren psychische Gesundheit erheblich beeinflusst. Durch die Absage von Konzerten und Tourneen sowie die Schliessung von Veranstaltungsorten verloren viele Musizierende ihre Haupteinnahmequellen: das Auftreten und die Möglichkeit, mit ihrem Publikum direkt in Kontakt zu treten. Die plötzliche Unsicherheit und der Verlust sozialer Interaktionen auf und hinter der Bühne führten oft zu erhöhtem Stress, Angstzuständen und Depressionen.Viele Musiker*innen mussten sich an neue digitale Formate anpassen, um weiterhin präsent zu sein, was zusätzlichen Druck und technische Herausforderungen mit sich brachte. Zudem fehlten die unmittelbare Rückmeldung und die soziale, direkte Verbindung zu ihrem Publikum, was für viele Künstler*innen wichtige Motivationsfaktoren sind. Einige Musiker*innen nutzten jedoch die Zeit, um neue kreative Wege zu finden, Musik zu produzieren und zu verbreiten, was zu einem Anstieg von Online-Konzerten und Streaming-Events führte. Trotz dieser kreativen Lösungen war die psychische Belastung für viele erheblich, was die Notwendigkeit für gezielte Unterstützung und Hilfsprogramme in der Musikindustrie verdeutlicht hat.

Der Zusammenhang von Selbstwert, Auftrittsangst und Depression
In dieser Zeit starteten wir mit der Lübecker Musizierendengesundheits-Arbeitsgruppe eine gross angelegte Untersuchung zum psychischen Befinden von Musiker*innen. Ausgangspunkt war die Beobachtung aus meiner psychotherapeutischen Musizierendenpraxis, dass Menschen mit einem geringeren Selbstwertgefühl stärker zu sozialen Ängsten neigen. Meine Mitarbeiterin, Christine Sickert, publizierte die Ergebnisse der Studie im Dezember 2022 in der Fachzeitschrift Medical Problems of Performing Artists. Befragt wurde eine Stichprobe von fast 300 deutschsprachigen Musiker*innen. Mithilfe der Fragebögen Rosenberg Self-Esteem Scale, Kenny Music Performance Anxiety Inventory und dem Beck Depression
Inventory
untersuchten wir die Zusammenhänge zwischen Selbstwertgefühl, Auftrittsangst und Depressivität bei Profi- und Amateurmusiker*innen und Musikstudierenden.Wir fanden heraus, dass insbesondere Musikstudierende ein signifikant niedrigeres Selbstwertgefühl im Vergleich zu angestellten Profis und Amateur*innen hatten. Im Vergleich zu angestellten Musizierenden zeigten die Studierenden auch eine ausgeprägtere Auftrittsangst. Wenn also ein geringes Selbstwertgefühl und Auftrittsangst zusammenkommen, steigt die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung einer klinisch relevanten Depression signifikant. Dieser Zusammenhang war insbesondere während der Corona-Pandemie verheerend, da dort Auftritte als Momente des Erfolgs und der Bestätigung, also als selbstwertdienliche Erlebnisse, wegfielen.

Ausblick
Die Schlüsse, welche die hier dargestellten Studien für die Musik- und Kunsthochschulen nahelegen, sind, dass wir direkt zu Studienbeginn präventive Lehr- und Gesundheitsangebote machen müssen. Die Studierenden sollten selbstwertdienlichen Unterricht und Unterstützung erhalten, um gar nicht erst psychische Erkrankungen zu entwickeln. Auch sollten psychische Probleme endlich vollkommen enttabuisiert werden. Studierende brauchen auf den Künstler*innen-Bereich spezialisierte Hilfsangebote und eine solche Begleitung, um gesund zu bleiben oder wieder zu gesunden. Und wir sollten sie aktiv darin unterstützen, ihre vollen Potenziale ausleben zu können, möglichst angstfrei und freudvoll Kunst zu schaffen und zu musizieren.