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N°3/2021
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«Jetzt gaht’s ufe i d’Nische», ruft mir einer der beiden Wildhüter zu. Er trägt eine der 30 Kilogramm schweren Kisten mit einem 90 Tage alten Bartgeierküken den steilen Berghang hinauf. Als begleitender Fotograf der Stiftung Pro Bartgeier (bartgeier.ch), die für das Auswildern und das Monitoring der Bartgeier verantwortlich ist, muss ich mich beeilen, um vor den Wildhütern bei der Nische anzukommen. Die beiden müssen schliesslich aufs Bild, wie sie schwitzend die Kisten mit dem wertvollen Inhalt den Berg hinaufschleppen. Zum Glück ist auf den letzten 50 Metern ein erstes Fixseil montiert, an dem man sich bis unter den Felsvorsprung hochziehen kann. Etwas ausgesetzt geht es nun noch um einen Felsblock herum und danach wieder an Fixseilen durch ein Felsband hinab, bis die Auswilderungsnische erreicht ist.  

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Geschäftsleiter von Ediprim AG in Biel, der Partnerdruckerei der HKB 

Dieser geschützte Ort wurde von den Biologen sorgfältig ausgewählt und vorbereitet, damit die diversen Anforderungen für die ersten Wochen der Junggeier in ihrem natürlichen Lebensraum optimal erfüllt werden können. Die Nische befindet sich im Wildschutzgebiet Hutstock, das einen guten Bestand an Steinböcken und Gämsen hat. Dass die Nische oben und unten durch eine Felswand begrenzt ist, schützt die beiden noch nicht flugfähigen Vögel vor Regen und begrenzt ihren Aktionsradius. Die beiden werden alle zwei Tage frühmorgens um halb sechs gefüttert. Auf dem Speiseplan stehen Rehfleisch und -knochen, die vom Wildhüter gesammelt werden – eine sinnvolle Nutzung der toten Tiere, die dem Strassenverkehr zum Opfer gefallen sind.  

Die beiden Jungvögel sitzen etwa einen langen Monat in dieser Nische, beobachten die Umgebung und prägen sich diese ins Gedächtnis ein. In dieser Zeit trainieren sie auch ihre Flugmuskulatur intensiv. Wenn sie täglich rund 200 Flügelschläge machen, ist das ein Zeichen, dass sie bald ihren ersten Flug wagen werden. Dieser ist meist nur kurz und endet mit einer holprigen Landung. Aber sie haben gelernt, dass ihre Flügel sie zu tragen vermögen. 

Dank der erlangten Flugfähigkeit verlassen sie die Auswilderungsnische, fliegen zunehmend längere Strecken und suchen neue Schlafplätze im Hang. Entsprechend wird das Futter verteilt, damit sie lernen, die Nahrung zu suchen und sie gegen Steinadler und Kolkraben zu verteidigen. Bei ihren Flügen finden sie nun auch erstmals Nahrung von wild verendeten Gämsen oder Steinböcken. Der Speiseplan der Bartgeier ist höchst spezialisiert. Sie fressen zu achtzig Prozent Knochen und räumen so von einem verendeten Tier noch die letzten Überreste weg. Ein Gämsbein von dreissig Zentimeter Länge kann ohne Probleme ganz geschluckt werden, um dann von den starken Magensäften in verwertbare Proteine zersetzt zu werden.  

Ende August verlassen die Jungvögel das Auswilderungsgebiet meistens und fliegen für die folgenden vier bis fünf Jahre im ganzen Alpenraum umher. Mit rund sieben Jahren sind sie ausgewachsen und geschlechtsreif. Aus ihrer Zeit in der Nische kennen sie ein Gebiet, das sich für die Aufzucht von Jungen eignet, und oft kommen sie zurück, um dort mit einem Partner ein eigenes Territorium zu besetzen und wilden Nachwuchs grosszuziehen.  

Dieses philopatrische Verhalten Brutortstreue hat zur Folge, dass in der Region der Auswilderungs-Nische zunehmend auch Wildbruten stattfinden, die den Lebensraum nachhaltig bereichern.