Spielraum und Verantwortung gestalten
Wie sich Studierende das Jahr 2033 vorstellen, fragt die vorliegende HKB-Zeitung. Zukunftsfragen sind nichts Neues, aber sie sind aktueller als auch schon. Im Roundtable tauschen Rico Gubler, Fachbereichsleiter Musik, und Lis Marti, Pianistin und Studierende Master of Arts in Music Pedagogy – Klassik, ihre Perspektiven und Erfahrungen aus. Was prägt ihren Blick auf 2033? Bewegen wir uns mit der Kunst in Richtung Utopie oder Dystopie? Und wie sah das vor 30 Jahren aus?
Leiter Kommunikation und Publikationen HKB und Mitglied der Kulturkommission Biel
Wir leben in einem Zeitalter erlebter Krisen und anstehender Katastrophen. Die Dystopie hat Hochkonjunktur. In diesem Kontext möchte ich mit euch über unmittelbare Perspektiven von Musiker*innen heute sprechen. Lis, du studierst klassische Musik, Klavier und Pädagogik. Kannst du in ein paar Sätzen etwas über dich erzählen?
Lis Marti: Ich muss grinsen, wenn du sagst, ich studiere klassisches Klavier. Zurzeit bewege ich mich an einer Grenze. Ich mache vorwiegend Musik aus dem 21. Jahrhundert und habe eine relativ grosse Distanz zum klassischen Repertoire. An der HKB bin ich jetzt in meinem ersten Masterjahr, das ich gleich anschliessend an meinen Bachelor angefangen habe. Ich habe mich für den Studiengang Pädagogik entschieden, weil mir die Vermittlung ein grosses Anliegen ist. Ich möchte sogenannte Kunstmusik wieder mehr unter eine breite Allgemeinheit bringen.
Ergibt sich aus diesem Interesse an der gegenwärtigen Musik oder aus dem, was du im Studium bisher erarbeiten konntest, bereits eine berufliche Perspektive? Hat sich da schon etwas herausgeschält, was du 2033 machen wirst?
LM: Nein, es ist vielmehr die pädagogische Arbeit, welche eine Perspektive bietet: Künstlerisch bin ich noch in der Schwebe. Da habe ich noch keine konkrete Vorstellung, was ich in 10 Jahren machen werde.
Aber du kannst dir konkret vorstellen, in 10 Jahren mit Musik pädagogisch zu arbeiten?
LM: Ja, als eines meiner Standbeine. Daneben möchte ich noch andere künstlerische Tätigkeiten ausüben. Ich habe aber noch keine konkrete Vorstellung, wie diese genau aussehen werden.
Rico, ein genereller Blick zurück auf dein Studium: Gab es bei dir auch diese Alternativen, etwas Künstlerisches, etwas Pädagogisches oder berufsmässig etwas zu machen, was über das Künstlerische hinausgeht? Was für ein Bild hattest du während des Studiums, was du überhaupt suchst oder machen möchtest?
Rico Gubler: Als ich in den 90er-Jahren in der Schweiz studierte, musste man zuerst das Lehrdiplom machen. Ich begann spät, Saxophon zu spielen, und war deshalb ein bisschen in einem Rechtfertigungsdruck mir selber gegenüber, wie man in ein solches Studium hineingeht. Ich hatte eine sehr genaue Vorstellung, was das werden soll. Aber es kam anders und es kam grösser, als ich es mir überhaupt vorstellen konnte. Das ist auch das, was ich Studierenden mitzugeben pflege: Planung ersetzt Zufall durch Irrtum – planen sollte man trotzdem. Planung ist Ausdruck von Willen. Du musst den Ball mit viel Power und gutem Ziel nach vorne werfen, dann aber bereit sein, zu erkennen, welches nun die Chancen und die konkreten Möglichkeiten sind, wo du die Nase auf dem Boden hast und wo du die Nase in der Luft hast. Als ich nach einer längeren instrumentalen und kompositorischen Karriere anfing, Jura zu studieren, kam es wieder genau gleich. Was ich mir am Anfang spannend vorgestellt hatte, stellte sich gelinde gesagt als ein bisschen langweilig heraus, aber es haben sich völlig andere, sehr interessante Türen aufgetan.
Wenn ich es richtig verstehe, hat es am Anfang des Studiums eine künstlerische Vision gegeben. Kannst du diese beschreiben?
RG: Ich dachte wirklich, ich werde Kammermusik spielen, ich werde für ein paar Bands spielen, ich werde unterrichten müssen, weil es auf diesem Instrument sonst nichts gibt, ich werde vielleicht eine Bigband leiten. Es war eine Art Aktionsradius von 50 km. Das hörte sich für mich schlüssig an, das hätte so eigentlich auch aufgehen müssen, denn rundherum gab es Leute, die etwa doppelt so alt waren und das so machten. Über die Vertiefung in die Kunst, über das sich in den Elfenbeinturm zurückziehen und sagen, jetzt nehme ich die ganz harte Schaufel und gehe mal runter, öffneten sich dann ganz viele Berufsfelder. Auch wenn man musikhistorisch schaut, finden Entwicklungen oft in den Schnittmengen oder am Rande statt – dort, wo es die Musik hineinzieht, was auch Lis vorhin beschrieben hat. Es hat etwas mit einer Vertiefung zu tun und das ist das, was das Künstlerische auch für die Pädagog*innen so wichtig macht, dass man sich in diesem tiefen Willen mit dem Künstlerischen auseinandersetzt. Man kann auch einfach sagen: Es formt die künstlerische Persönlichkeit.
Wie orientiert man sich in der Welt eines Studiums, in das man einsteigt? Lis, kannst du die Behauptung teilen, dass Orientierung damals, vor 30 Jahren, einfacher war als heute?
LM: Ich denke diese Frage nicht in Schwarzweiss und kann sie deshalb nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten. Rico, du hast beschrieben, dass du eigentlich ein enges Bild hattest, was du künstlerisch machen möchtest. Da denke ich, haben wir heute eine grössere Palette, die uns vor Augen führt, dass es mehr als drei Berufsfelder gibt und sonst nichts. Das Bildungssystem ist viel durchlässiger geworden. Auch wenn ich irgendwann nichts Künstlerisches mehr machen möchte, könnte ich nochmals an eine Uni und etwas völlig anderes studieren. Da habe ich heute sicher mehr Möglichkeiten. Das fühlt sich befreiend an, ist aber auch überfordernd.
Deshalb komme ich zur Behauptung, dass es heute schwieriger ist, künstlerisch eine Orientierung zu finden als vor 30 Jahren.
RG: Oder vor 50 Jahren. Bereits als ich studierte, lernte ich die gewisse Frustration kennen, dass fast alles toleriert ist. Wenn ich 20 Jahre weiter zurückschaue, stiessen Leute, die neue Musik machten, Free Jazz zum Beispiel, echt noch auf Ablehnung und nicht auf eine Gummizellentoleranz. Ich kann mich sehr gut erinnern, dass ich fand, es ist gar nicht so einfach, sich Ecken und Kanten zuzulegen, sondern dass man weich gehalten wird.
Ablehnung ist hilfreich, um Orientierung zu finden.
RG: Was mir damals ein bisschen gefehlt hat und man selber suchen musste, waren Begegnungen und Diskurs. Das hat an den Hochschulen stark zugenommen: viel mehr Projekte, viel mehr Gäste etc. Hochschulen sind wichtige Begegnungs- und Diskursorte. Wir Studierenden waren damals als Generation wohl deutlich unpolitischer als die Generation davor. Die Generation von dir Lis ist wiederum ganz anders politisch unterwegs. Und wir sind in der Schweiz anders politisch als in Deutschland. Was ich in zehn Jahren Deutschland erlebt habe, vermisse ich heute in der Schweiz: Als Student*in an einer Hochschule kann man seine demokratischen Sporen abverdienen. Wie geht es mit den Demokratien weiter und was für eine Funktion haben Musiker*innen in einer Demokratie? Bei uns gab es einfach das Gefühl, die Welt steht uns offen. Das führte aber auf eine Art zu etwas Unpolitischem. Heute merke ich viel mehr, dass junge Studierende kommen und wissen wollen, was sie für eine Funktion in der Gesellschaft haben. Wir sahen uns damals ausserhalb der Gesellschaft, als Romantiker*innen, Einzelkämpfer*innen.
Wie Studierende sich heute äussern oder sich einbringen oder Themen, welche sie beschäftigen, Stichwort Diversity oder Gender, sind Diskurse, die hypervirulent sind und konstant zu Diskussionen führen. Das gab es vor 10 Jahren so noch nicht. Lis, hast du diese Empfindung auch?
LM: Zum Glück wird es langsam so. Es gibt viele Themen, die Studierende schon vor 10 Jahren hätten anstossen können. Also nicht nur die Studierenden, sondern die ganze Kunstwelt. Ich komme aus einem konservativen Umfeld. Als ich an der HKB anfing und dachte, ich mache nun etwas mit Kunst, verstand ich das auch als politischen Akt. Der Einstieg in den traditionellen Bereich des klassischen Klaviers war sehr ernüchternd, denn ich merkte, da gibt es ganz viele Menschen, die sich nicht mit politischen Fragen auseinandersetzen. Das hat bei mir fast ein bisschen eine Sinnkrise ausgelöst und mich dann in die künstlerische Richtung verschlagen, in der ich jetzt bin. Klar kann man sagen, Beethoven ist auch politisch und man kann das in die heutige Welt adaptieren, aber das war mir irgendwie zu weit weg.
Du sprichst jetzt von der Vergangenheit und dass du es heute anders erlebst?
LM: Nein, ich finde, die Leute könnten sich noch mehr Gedanken über ein soziales Miteinander, über Themen wie Nachhaltigkeit, Diversität etc. machen. Klar, ein Anfang ist gemacht, aber nebst den gehypten Themen könnten auch andere aktuelle Geschehnisse künstlerisch behandelt werden.
Es gibt mittlerweile eine Gegenbewegung, eine rechtsgerichtete Kritik am Wokeness-Diskurs. Und du sagst jetzt, zum Glück hat der Diskurs angefangen und er könnte eigentlich noch stärker geführt werden. Was wird, ganz platt gefragt, 2033 deine Rolle als Musikerin sein?
LM: Ich habe gut verstanden, was Rico vorhin gesagt hat. In meinen früheren Ausbildungen hatte ich auch oft Vorstellungen, was danach daraus wird, und es ist immer sehr anders kommen. Also habe ich aufgehört, zu konkret in die Zukunft zu denken. Um trotzdem auf deine Frage einzugehen: Ich habe das Gefühl, dass wir auf noch viel engerem Raum diverser zusammenleben werden, da sich unter anderem auch aufgrund der klimatischen Veränderungen die Migrationsströme verstärken werden. Das kann grosses Potenzial haben, aber auch Schwierigkeiten mit sich bringen. Kunstschaffende können da die Rolle von Vermittler*innen einnehmen. Kunst wird sich stärker positionieren oder als verbindendes Element eingreifen.
Rico, wenn du zurückschaust auf deine Zeit, als du studiert hast, was hast du dir zur Rolle als Musiker in sozialer oder politischer Dimension überlegt?
RG: Man war schon damals stets den Fragen ausgeliefert: Warum machst du Kunst. Was bringt es der Gesellschaft? Was für einen Bezug hat Kunst zur Gesellschaft? Die Ökonomisierung der Kunst war schon sehr weit fortgeschritten. Von diesen Fragen haben wir uns zurückgezogen. Wir habe uns legitimiert über den Differenzierungsansatz: Wir sagten, Musik ist der Ort, an dem man differenziert zuhört, differenziert denkt, den Blick und das Ohr schärft, was wiederum die Gesellschaft an sich sensibilisiert. Die Kunsthochschulen haben historisch sowieso einen Umweg gemacht. Die Universitäten waren immer schon politische Vehikel. Im Mittelalter hat man Universitäten errichtet, um Fortschritt zu bewirken, um sich in der Stadt auch gegenüber dem Land zu positionieren. Das war immer auch eine wirtschaftliche Geschichte, aber auch eine sozialpolitische Absicht. Aber Musiker*innen und Künstler*innen fanden nur reflektierend, nie praktizierend einen Platz an diesen Universitäten. Nicht aber, ähnlich dem praktizierenden Arzt, die Musikerin oder der Musiker, der oder die einfach und schlichtweg Musik macht. Die hinterliessen erst im Zuge der Aufklärung für uns noch lesbare Spuren.
Also eigentlich über ein Handwerk.
RG: Ja, das künstlerische Handwerk fand später in den Konservatorien und Akademien seinen Platz. Es hat eine gewisse Logik und auch Konsequenz, dass wir aus den Konservatorien, dem Konservativen kommend, erst vor Kurzem in Kunsthochschulen eingebunden wurden. Die Musiker*innen, die nun in einem University-of-Arts-Kontext angekommen sind, funktionieren deshalb anders als in einem rein traditionellen Musikbetrieb. Das ist total zu befürworten. Wo geht es hin? Erstmals beginnen wir, an der Hochschule Berufsfelder selber zu entwickeln. Wir haben mit Sound Arts zum Beispiel eine Ausbildung, bei der man in vielen Fällen noch nicht weiss, wie das Berufsfeld aussehen wird. Man weiss nur, da wird eins sein. Sowas hätte man im Konservatoriumsstil wahrscheinlich gar nie gemacht. Und das finde ich überhaupt nicht dystopisch. Gerade die Kunsthochschulen verkörpern utopische Ansätze.
Hast du, Lis, auch das Gefühl, dass es möglich sein wird, dass Künstler*innen gesellschaftlich eine aktivere Rolle spielen, dass dieser Raum überhaupt da ist, dass auch akzeptiert wird, dass die Kunst gesellschaftlich eine stärkere Rolle spielt?
LM: Ja. Wie Rico begrüsse ich es, dass die klassische Musikperspektive um jene der Kunsthochschule erweitert wurde. Klassische Musik ist eine träge Disziplin. In der bildenden Kunst ist es selbstverständlicher, sich ins aktuelle Gesellschaftsgeschehen einzubringen. Studiengänge wie Sound Arts oder Contemporary Arts Practice führen dazu, dass klassische, tradierte Studiengänge progressiver werden. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich habe das Gefühl, es besteht die Chance, wenn man positiv in die Zukunft schauen möchte, dass es für die Kunst einen Stellenwert geben wird. Zurzeit gibt es mehr Zusammenarbeiten zwischen verschiedenen Disziplinen, die vielleicht Grösseres bewirken können, als wenn alle in ihrer eigenen Welt bleiben.
Es ist interessant zu beobachten, dass an einer umfassenden Kunsthochschule wie der HKB immer noch Welten zusammenkommen, wenn sich Fine Arts und Klassik begegnen. Das wird auch nie ganz zusammenwachsen, oder?
LM: Das kann ich nicht beantworten. Ich möchte aber noch einen neuen Aspekt in unsere Zukunftsvision einbringen: Technisch sind wir heute an einem ganz anderen Punkt und werden es in 10 Jahren auch nochmals sein. Heute kann ich mit einem Mausklick vieles machen, wofür ich früher ganz viele Expert*innen gebraucht hätte. Dies ermöglicht es mir, als Einzelperson in den Disziplinen flexibler zu sein. Ich finde es sehr spannend, dass man durch die Technologie die Möglichkeit hat, einfacher in andere Felder hineinzuschauen. Auch die Kommunikation zwischen den einzelnen Bereichen wird durch die heutigen technischen Mittel einfacher. Ich sehe da auch einen Widerspruch zur gültigen Hochschulordnung, wonach die Expertise klar einem Fach zugeordnet ist.
Heute kann die ganze Welt sich die ganze Zeit vergleichen. Man kann nonstop schauen, wie was wo gemacht wird. Das ist eine komplett andere Situation als vor 20 Jahren. Du findest auf Youtube alles. Wohin führen uns die explodierenden Möglichkeiten?
RG: Wo gab es in der Geschichte Scheitel- oder Brückenzeiten, in denen zum Beispiel neue Stile entstanden sind? Das sind oft Überforderungszeiten. Entweder eine industrielle Revolution oder die Abschaffung der Sklaverei und die Durchmischung von verschiedenen Gesellschaftsschichten. War Corona ein solcher Zeitpunkt, in dem sich plötzlich Leute begegnen, die sich ohne Corona nie begegnet wären? Das Fieber ist noch nicht abgeklungen, man kann noch nicht exakt messen, was da herauskommt – aber es ist schon spannend, dass wir es oft gar nicht merken, dass wir jetzt in einem Moment sind, wo irgendwas kocht, wo sich historisch etwas bewegt und wohl in Zukunft unterscheidet.
Ist das eine Hoffnung auf Veränderung?
RG: Ja, es geschieht sehr viel, es wird vieles in Beziehung gebracht, und es wird trotzdem nicht alles relativistisch kaltgestellt. Die Postmoderne ist vorbei, es scheint alles wieder stärker zum Anfassen.
Nur in der Musik spricht man von neuer Musik und weiss gleichzeitig, dass dieser Begriff überhaupt nicht mehr funktioniert, weil es gar nicht mehr neu ist. Man weiss gar nicht mehr, was neu ist.
RG: Es gibt ja zwei Arten von neuer Musik. Wenn du das Radio einschaltest, heisst es, Sie hören jetzt neue Musik. Und da kommt etwas anderes, als wenn du in der Bibliothek das grosse N suchst.
Es ist schon auffällig, dass man in der Musik über den Begriff «neu» so diskutieren muss, egal ob mit grossem oder kleinem N gemeint. Hier ist ja das Thema: neue Musik 2033. Vielleicht ist 10 Jahre ein bisschen wenig weit gedacht.
RG: Das glaube ich gar nicht. Ich habe jetzt längere Zeit wenig komponiert und ich muss sagen, es ist alles anders geworden. Das Komponieren ist anders, die jungen Leute komponieren anders. Das ist etwas, was ich echt super finde.
Kannst du das noch ein bisschen konkreter benennen?
RG: Man hat sich vom reinen Novitätsanspruch gelöst. Der singuläre Komponist, der unter Tränen, Langeweile und unter Konsum von irgendetwas eine Note nach der anderen aus sich herausgerungen hat und dieses Werk dann jemandem übergeben hat, scheint überholt. Es geht teilweise viel stärker Richtung Co-Creation, es ist mehr der Anspruch, mehr Welten überhaupt zuzulassen. Deshalb würde ich auch sagen, dass die neue Musik, wie wir sie erlebt haben, wie ich sie erlebt und studiert habe, definitiv Historie ist. Heute greifen wir auf andere Materialien zurück, behandeln die Materialfragen anders, prozessualer. Was heisst es, wenn ich das Thema Nachhaltigkeit kompositorisch umsetze? Was heisst es, wenn ich das Thema sozialer Zusammenhalt musikalisch angehe? In den nächsten zehn Jahren werden sich diese Themen zuspitzen.
Kollaboratives Schaffen anstelle von Autor*innenschaft: Wird das unsere Zukunft sein?
RG: Ja, bis dahin, dass das Urheberrecht an sein Ende kommt. Das Urheberrecht stammt aus dem 19. Jahrhundert und braucht eine Auffrischung, damit es seiner Aufgabe wieder gerecht werden kann.
Das klingt, als würde die DNA auseinanderfallen. Rico hat ein Bild beschrieben, was sich ändert und in welche Richtung es geht und dass es 2033 noch pointierter um Fragen von Nachhaltigkeit und Zusammenhalt gehen wird. Kannst du das teilen, erlebst du das auch?
LM: Ich würde sagen, es ist ein sehr positiver oder optimistischer Ausblick. Aber ja, es gibt mehr Co-Creations. Schon heute kümmern sich Kompositionsstudierende nicht einfach um Musik, sondern um die Gesten der Menschen auf der Bühne, um das ganze Staging mit allen Visuals. So entstehen beispielsweise Co-Creations mit anderen Menschen, die sich auf das Visuelle konzentrieren, oder die Komponierenden bringen selbst mehr oder erweiterte Kompetenzen ein ins Musikalische oder Performer*innen sind mit Komponierenden auf der Bühne, wodurch wir Interpretierenden eine viel grössere Rolle im Endwerk übernehmen.
Die verschiedenen Rollen werden offener, flexibler und durchlässiger?
LM: Genau. Aber ich möchte noch einen nachdenklichen Punkt einbringen. Wir bewegen uns immer noch in sehr elitären, oft auch ausgrenzenden Kreisen. Ich habe noch keine Ahnung, wie das in 10 Jahren besser funktionieren könnte. Denn es gibt die eine neue Musik, die ist sehr klischiert, will manchmal gegen aussen sogar ablehnend sein. Sie ist oft nur für einen kleinen Kreis von Kenner*innen verständlich. Ich erlebe, dass ein Teil der Musik, die jetzt gerade geschrieben wird, versucht, sich davon zu distanzieren. Das finde ich unterstützenswert. Trotzdem bleibt es eine riesige Herausforderung, zeitgenössische Musik einer breiteren Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen.
RG: Es ist vielleicht eines der ersten Male, wie wir, eine Gesellschaft im Diskurs, uns bewusst um das Thema Sprache bezüglich Politik, bezüglich Gestaltung der Gesellschaft Gedanken machen und versuchen, Lösungen zu finden. Dass auf einmal auch Leuten aus künstlerischen Studiengängen völlig klar ist, dass sie eine soziale Verantwortung innehaben, dafür aber die Tools vielleicht nicht oder noch nicht besitzen. Das ist das, was mir eine positive Grundeinstellung gibt. Das ist es, was interessant und anders ist. Es dreht sich etwas zurück, was sich früher in eine wahnsinnige Arbeitsteiligkeit begeben hat. Ich bin Künstler, du bist Vermittlerin und ihr seid Publikum, und wenn möglich sollte das Publikum so viel verdienen, dass man die Künstler*innen bezahlen kann, die aber wiederum das Vermitteln delegiert haben. Und plötzlich geht diese Schere wieder zu, Musiker*innen sehen, dass beides zusammen gehen muss. Wir haben viele Scheren, die aufgehen, aber hier sieht man, da geht etwas wieder zusammen. Und da sehe ich es als unsere Aufgabe, als Hochschule zu sagen, das ist ein Schatz, den wir als Künstler*innen haben. Nehmt den mit, nehmt den ernst.
Was kann die Musik – neue Musik, zeitgenössische Musik – 2033? Was du gesagt hast, könnte man vielleicht so übersetzen: mehr verstehen, sich aber auch verständlicher zeigen, indem man eine Sprache hat, die sensibler reagiert, die mehr auf Verständnis angelegt ist, wo man stärker zu erkennen gibt, wer man ist. Und dass es ein Gegenüber gibt, welches vermutlich ganz anders ist. Was wir teilen, ist, dass die Musik eine gesellschaftliche Dimension hat, aber auch eine soziale und politische, welche in Richtung Verständigung und Vermittlung geht. Hat die Musik in Zukunft dieses Potenzial?
LM: Sie könnte es haben. Ich muss diesen Glauben haben in der Mitte meiner Ausbildung – sonst könnte ich damit jetzt aufhören. Aber ich habe diesen Glauben natürlich nicht immer. Ich finde, es braucht überall eine Öffnung und eine Erfrischung, und ich finde es gefährlich, wenn gewisse Sachen sehr eng werden und nicht mehr viele verschiedene Zugänge zulassen. Wenn man weiterhin an dieser Öffnung arbeitet, übrigens auch bei der Vielfalt derer, die sie ausüben, und nicht nur bei denen, die sie konsumieren und vermitteln, denke ich schon, dass es Potenzial gibt. Und ich möchte dieses Potenzial nicht auf die zeitgenössische Musik reduzieren, sondern, wenn dieser Prozess der Öffnung weitergeht, auch auf älteres klassisches Repertoire erweitern.
RG: Eine weitere Erfahrung ist, dass ein Gestaltungswille auch ein Ergebnis zeitigen kann. Immer in einem gewissen gesellschaftlichen Umfeld, sei das jetzt gross oder klein, und dass es gelingen kann. Diese Erfahrungen habe ich in den letzten Jahren gemacht, dass es wirklich gelingen und vorwärtsgehen kann. Natürlich ist es immer das mit der Grösse der Schritte. Für dich ist es vielleicht ein kleiner Schritt, für andere ein grosser.
Und der Rückschritt, den man gelegentlich auch erlebt.
RG: Rückschritt? Das spüre ich gar nicht so. Ich finde, man muss einfach richtig tapfer sein, wenn man in diesem Job ist und etwas bewegen will, Diskurse öffnen und Veränderungen bewirken will. Musik kann ein Ansatz sein, um soziale Kohäsion mitzugestalten. Es ist auch wichtig zu sehen, dass sich die Gesellschaft in den letzten 100 Jahren schon oft geöffnet und verändert hat und es jetzt wieder tut. Auch in der Politik gibt es doch immer wieder ein grosses Vertrauen in die Möglichkeiten des Kulturguts und der Kulturtechnik Musik – da könnte übrigens die Schweiz von anderen Ländern durchaus etwas lernen. Es ist aber auch unser Job, das zu realisieren, es wahr werden zu lassen, ohne einfach instrumentalisiert zu werden.
Ich will das Gespräch hier beenden, aber dir, Lis, die Möglichkeit zu einem Schlusswort geben. Vielleicht nochmals eine Reaktion auf den positiv besetzten Spielraum, den Rico umschrieben hat.
LM: Du möchtest also, dass ich mich dem positiv besetzten Spielraum anschliesse und die Gesprächsrunde mit einem Happy End ausklingen lasse?
Nein, das musst du nicht, du kannst auch Gegensteuer geben und sagen, du teilst das nicht.
LM: Ich finde es gut, wenn man optimistisch auf die aktuellen Entwicklungen blickt. Ich möchte die Musik aber auch nicht zu stark auf einen Thron heben. Ich habe das Gefühl, sie hat in der Gesellschaft ihren Stellenwert, ist aber nicht das Wundermittel für alles. Es ist wichtig, dass man als kunstschaffende Person auch ein bisschen bescheiden bleibt. Man hat seine Rolle wahrzunehmen, hat seine Verantwortung und man hat einen gewissen Spielraum, etwas zu bewirken. Das kann für mich als Kunstschaffende sehr befriedigend sein, mehr aber auch nicht.