Noemi Somalvico
Wer sich für Perlen abseits des literarischen Mainstreams interessiert, ist diesen Herbst kaum um Noemi Somalvicos Roman Ist hier das Jenseits, fragt Schwein herumgekommen. Mit ihrem fabelhaften Debut verschaffte sich die Autorin grosse Aufmerksamkeit im Literaturbetrieb. Sie war Seite an Seite mit Annika Brüsing Nordstadt und Reinhard Kaiser-Mühlecker Wilderer für den Bayerischen Buchpreis nominiert, hat den Literaturpreis des Kantons Bern 2022 sowie den Weinfelder Buchpreis 2022 gewonnen und ihren Verlag Voland & Quist auf die Hotlist 2022 der unabhängigen Verlage katapultiert.
Studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater Hannover sowie Germanistik mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften und -vermittlung an der Universität Zürich. 2014 gründete sie ihre eigene Buchhandlung, organisiert seither die Weinfelder Buchtage sowie den Weinfelder Buchpreis und ist Mitbegründerin des Kammermusikensembles Camerata Aperta.
In Ist hier das Jenseits, fragt Schwein begeben sich Schwein, Dachs und Gott auf Sinn- und Identitätssuche. Wie ist so was möglich? Dachs hat einen Apparat erfunden, mithilfe dessen er per Kippschalter zwischen den Welten hin- und herwechseln kann. So stattet er der Welt von Gott einen Besuch ab und leistet diesem in seinem Zuhause Gesellschaft. Gott selbst sitzt in Trainerhosen vor seinem angestaubten Sonnensystem-Modell und schaut zum Zeitvertreib mit dem Fernglas den Erdlingen beim Leben zu. Nach einem kurzen Abstecher auf die Erde – Blumen müssen schliesslich gegossen werden – kehrt Dachs mit Schwein, das er zufällig angetroffen hat, zu Gott zurück. Schwein fühlt sich nicht besonders, eher sonderlich. Es hat eine Wüstenreise gewonnen und findet keine Begleitung, denn Reh muss arbeiten und kann sich im April nicht einfach freinehmen. Die Handlungen und Dialoge der Figuren wirken in Tiergestalt geradezu absurd. In der Transformation auf den Menschen empfinden wir sie aber als normal und vertraut. Mit diesem Kniff eröffnet Somalvico, die an der HKB den Bachelor in Literarischem Schreiben und den Master in Contemporary Arts Practice absolvierte, ein riesiges Spannungsfeld und wirft in einem urkomischen Rahmen existenzielle Fragen nach Raum und Zeit auf. Existieren Dinge wie Reihenfolge oder Chronologie und, wenn ja, sind diese determiniert? Schwein zweifelt daran: «Es macht keinen Sinn, denkt Schwein, es macht keinen Sinn.» Schwein ist melancholisch, leicht depressiv und seine Einsamkeit geradezu fassbar. Es glaubt nicht an Schicksal und auch nicht wirklich an Gott, was es ihm später auch unverblümt mitteilt.
Ein Spiegelkabinett
Nicht nur die Tiere, auch Gott ist menschlich, ordinär und doch immer von einem Hauch des Göttlichen umgeben. Wie Schwein ist Gott ein Melancholiker und in letzter Zeit nicht so gut im Strumpf. Er hat den Verdacht, dass alles irgendwie zusammenhängt. Was wäre, wenn Gott seinen Job an den Nagel hängen würde? Gott wäre nämlich lieber ein Baum, also nicht Schöpfer, sondern Geschöpf. Er wäre gern bedeutungslos, so wie Schwein sich fühlt. In Somalvicos Roman verschwimmen sämtliche Grenzen zwischen Irdischem und Göttlichem, zwischen Fiktionsebenen, die ineinandergreifen und sich dadurch auf sich selbst auswirken: ein wahres Spiegelkabinett.Manchmal ist Somalvicos Text zum Weinen schön. Sie dichtet ihren tierischen Figuren rührende Eigenheiten an und macht sie dadurch lebendig und, ja, menschlich. In zahlreichen Miniszenen unterscheidet sie zwischenmenschliche Nuancen, baut dramaturgische Bögen und klitzekleine Figurenentwicklungen. Die Film- und Literaturwissenschaftlerin Judith Rehmann lobt in ihrer Laudatio als Jurypräsidentin des Weinfelder Buchpreises Somalvicos Talent, einen kindlichen Blick auf die Welt zu wahren. Dieser sei «nicht naiv, sondern neugierig, unverfroren und ehrlich. Auch nutzt sie ihre Tierfiguren nicht aus, um unsere menschlichen Lebens- und Verhaltensweisen satirisch vorzuführen. Nein, die junge Schweizer Autorin begegnet ihnen stets auf Augenhöhe. Und hat dabei ein Gespür fürs Zwischenmenschliche.» Zum Lesen ist das ein Heidenspass. Und doch rührt die Autorin unter dem Radar und mit grossem Ernst im Topf der grossen menschlichen Tragödien, denen man jederzeit gewillt ist, innerlich nachzuhorchen. Man beobachtet Gott in Alltagsszenen, schaut ihm beim Rumgurken zu und muss als Leser*in immer wieder ungläubig anerkennen, wie sehr man darüber irritiert ist und besseren Wissens zum Trotz ganz offensichtlich das Göttliche an einem geheimen Ort, ganz tief in sich drin als weisses Heiligtum verankert hat. Umso grösser die Diskrepanz dann, wenn Gott Mahnungen in den Briefkasten flattern. Unergründlich die Befriedigung, wenn Gott den Toilettengang von Dachs als Gelegenheit dazu nutzt, beschämt und hastig den Dreck seiner Wohnung wegräumen, oder beim Badewannenschaukeln Wasser über den Rand schwappen lässt. Wer tut so was nicht? Und so sind wir eben alle zumindest in der Möglichkeit ein bisschen göttlich.
Schlichtweg zauberhaft
Vieles an diesem Text bleibt rätselhaft, selbst der Autorin ist nicht immer klar, wer oder was genau sich hinter ihren Figuren verbirgt. Sie hat diese nicht konstruiert, sie sind ihr zugefallen. Schwein beispielsweise – so Somalvico anlässlich ihrer Lesung im Literaturhaus Berlin – war einfach da, Dachs ist ihr im Traum erschienen. Was kurios klingt, erscheint vor dem Hintergrund der Lektüre aber als absolut schlüssig. In jeder Zeile dieses wunderlichen Textes findet sich eine eigentümliche, nicht zu benennende Befriedigung. Doch auch wiederholtes Innehalten und Nachforschen bringen keine sinnvolle Antwort auf die Frage nach der wahren Funktionsweise des Textes. Das Abwenden von der Spezies Mensch und Zuwenden zum Tier als Figurenträger habe auf sie selbst eine verblüffende Wirkung, sagt Somalvico. Sie vergleicht ihr Fabulieren mit einem Imaginieren, wie man es als Kind tut. Die Autorin selbst war in ihrer Kindheit des Öfteren in Begleitung von eingebildeten Tierfreunden. Wer die verträumt-verspielte Somalvico im Rahmen einer ihrer Lesungen erleben durfte, glaubt das sofort. Nicht nur ihr Text kommt magisch tänzelnd daher, auch ihr Vortrag, ihr Nachdenken und ihr gedankliches Fabulieren sind schlichtweg zauberhaft. Es ist ein bisschen wie in ihrem Roman: Die Begegnungen von Gott und den tierischen Wesen sind bis ins Mark entzückend und man weiss gar nicht richtig, warum.