The common arts of Fluxus
Spielen und die Lust am Lebendigen sind für Hobbys archetypisch. Das Spielerische ist eine Eigenschaft, die sich in Fluxus-Objekten, Performances und Events wiederfindet, die in den 1960er- und 1970er-Jahren mehrheitlich in Europa und den USA entstanden sind. Sie sind Thema des SNF-geförderten Forschungsprojekts Activating Fluxus an der HKB.
Kunstwissenschaftlerin und Kunstvermittlerin in Basel und assoziierte Forscherin des SNF-Projekts Activating Fluxus.
Objekte wie Kreisel, Klick-Fernseher, Mini-Toys, Miniwürfel, Druckerzeugnisse in Kleinauflagen, Schreibmaschinenbänder, Filmrollen und Alltagsgegenstände wie Pingpongbälle und Spielkarten bilden das Sortiment, das für sogenannte Fluxkits zusammengestellt wurde. Der Vertrieb der versandtauglichen Kisten aus transparentem Kunststoff oder Holz wurde mehrheitlich von New York aus organisiert. Sie bilden neben Event-Scores, Propositions, historischen Fotografien, Mitschnitten und experimentellen Filmen einen Bruchteil des materiellen und immateriellen Bestands von Fluxus: einer internationalen Strömung in der zeitgenössischen Kunst ab den frühen 1960er-Jahren. Fluxus ist zugleich Teil und mittreibende Kraft eines bis und für heute relevanten, grundsätzlichen Umbruchs im Verständnis von zeitgenössischer Kunst und Kunstschaffen im Verhältnis zur Öffentlichkeit, ihrer Materialien und professionellen Strukturen.
Headquarter des Eternal Network: Fluxus Comes to New York
Strassenzüge mit mehrgeschossigen Bauten, gebaut in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kennzeichnen SoHo als ein ehemaliges Industriequartier in Lower Manhattan. In den frühen 1960er-Jahren war SoHo ein durchmischtes Quartier mit Kleingewerbe, Bars, Sexarbeit und niedrigen Mieten mit hoher Attraktivität für Migrant*innen aus der ganzen Welt, für welches die Behörden ein Urban Renewal vorgesehen hatten. Teil des Programms war die Idee der U.S.-Regierung: Die Experimental Housing Bill sollte es Künstler*innen ermöglichen, Ateliers und Arbeitsräume in SoHo käuflich zu erwerben. George Maciunas, der selbst ernannte Fluxus-Gründer, deklarierte am 3. Oktober 1966 das Fluxhouse Cooperative, Inc. am 349 West Broadway, apt.11, zum Headquarter von Fluxus. In Personalunion als Makler, Bauherr, Planer, Bauunternehmer und Buchhalter schwebte ihm ein Artist Condominium für Künstler*innen aller Metiers (Film, Musik, Tanz, Grafik und Design) vor. Das Areal zwischen Houston Street und Canal Street wurde wegen der Lage, der Bausubstanz, den ökonomischen Strukturen und der U-Bahn-Anbindung als besonders geeignet erachtet. Die Umsetzung kam schleppend voran, der ökonomische Erfolg und die Breitenwirkung blieben aus. Durch Nachbarschaft wurden indes die Dynamiken der Selbstorganisation verstärkt. Die Kerngruppe, bestehend aus den Künstler*innen Al Hanson, La Monte Young, Jonas Mekas, Dick Higgins, Alison Knowles, Nam June Paik und einigen anderen, traf regelmässig aufeinander. Flux Shop und das Mail-Order House in 359 Canal Street bildeten die selbstorganisierten Infrastrukturen für Veröffentlichung und weltweiten Vertrieb. 1964 gründete Dick Higgins die Something Else Press, in dem Alison Knowles, seine damalige Partnerin, bis 1974 als Lektorin arbeitete.
Ein Teil des materiellen Bestands an Fluxus-Objekten und Dokumenten ist erhalten: Durch das Engagement von Sammler*innen ist heute eine Auswahl in etablierte, museale Sammlungen wie beispielsweise der Staatsgalerie Stuttgart (Hanns Sohm), des Museums Ludwig und des MUMOK (Wolfgang Hahn), des Getty Research Center (Jean Brown), des MoMA (Gilbert und Lila Silverman) und des Walker Art Center integriert. Sie werden durch Bestände in Bibliotheken, Archiven, Nachlässen und privaten Sammlungen ergänzt. In den letzten Jahrzehnten hat sich aber durch Forschung die Einsicht durchgesetzt, dass es damit nicht getan ist. Diese Objekte hatten und haben keinen Selbstzweck. Sie waren aktiver Teil historischer Konstellationen, Gefüge und kultureller Kontexte in einer Zeit der Hochkonjunktur von Ökonomisierung und Marktorientierung. Eine Lagerung und Vermittlung als stille Relikte oder Zeugnisse einer abgeschlossenen Geschichte lässt ihren spezifischen Charakter ebenso unberücksichtigt wie ihr methodisches Potenzial für gegenwärtige Kunst und Kultur.
Vergegenwärtigung von Fluxus Legacies
Die Aufgabe, dieses Potenzial sichtbar zu machen und sich mit Fragen der Aktivierung aus der Gegenwart und ihren digitalen Möglichkeiten auseinanderzusetzen, ist ein internationales, multidisziplinäres Arbeitsgebiet. Hanna B. Hölling, die das Projekt Activating Fluxus an der HKB leitet, ist Teil der Gruppe an Wissenschaftler*innen, die dieses Gebiet mit Vermittler*innen und Künstler*innen über Jahrzehnte aufgebaut haben, pflegen und weiterentwickeln.
Die Kerngruppe des Forschungsprojekts hat im letzten Jahr nach ausführlichen Recherchen zu Identical Lunch (1967), einer frühen Arbeit von Alison Knowles aus der Serie der Propositions, entschieden, den Forschungsansatz experimentell und praxisnah weiterzuentwickeln. Die Juni-Ausgabe des regelmässig vom Institut Materialität in Kunst und Kultur der Hochschule der Künste Bern organisierten Mittagessens (Lunch) im Buffet Nord am HKB-Standort Fellerstrasse wurde genutzt, um zu hinterfragen, welche Bedingungen erfüllt werden müssen, um Identical Lunch authentisch zu erfahren.
Ausgangspunkt war die von Knowles formulierte Partitur (Fluxus Event Score): «A tuna fish sandwich on wheat toast with butter and lettuce, no mayo, and a cup of soup or glass of buttermilk was and is eaten many days of each week at the same place at about the same time». Für eine Aktualisierung wurde mit einem Çiğ Köfte Wrap und hausgemachtem Ayran eine europäische Variante bestimmt, die dem heutigen Bewusstsein für Überfischung und Nahrungsmittelunverträglichkeiten Rechnung trägt. Während des Anlasses wurde gegessen und Erfahrungen aus erster Hand diskutiert: Lässt sich diese originär nordamerikanische Arbeit in einen anderen Kulturraum übersetzen? Handelt es sich bei dem Berner Enactment um ein Kunstwerk? Bei wem, wenn überhaupt, liegt die (geteilte) Autor*innenschaft? Diese Fragen stellen sich allen Beteiligten mit jeder Aufführung auf ebenso ernste wie humorvoll, spielerische Weise immer wieder.
Alison Knowles ist Mitbegründer*in von Fluxus. Es kennzeichnet ihren Umgang mit den von ihr formulierten Propositions, dass sie sie als Werke in ihrem Schaffen nicht aus der historischen Perspektive denkt. Als Werk entstehen sie immer dann, wenn der konzeptionelle Kern in der Aufführung unter bestimmten Bedingungen für eine Öffentlichkeit wieder erfahrbar und Teil ihres individuellen und kollektiven Gedächtnisses wird.
Kunst neu denken: common arts
Welches Potenzial hat die Frage nach dem Leben und Nachleben von Fluxus-Objekten, Events und Performances an einer intergenerationalen Kunsthochschule, die über Kooperationen, eine internationale Studierendenschaft und Forschungsprojekte in grösseren Zusammenhängen partizipieren und mitgestalten kann? Der grössere methodische Freiraum erlaubt, dass Fragen, worin der Einsatz für den Bestand an materiellen und immateriellen Kunstformen bestehen kann und sollte, kompromissloser gestellt werden können. An die Stelle von Fragen der Repräsentation treten Fragen, wie Testfälle geschaffen werden können. Als Ort und Referenz lassen sich der Alltag und das Alltägliche als das, was sich unter den Augen der Menschen und mit ihnen konstant verändert, als Fundus gemeinsamen (common) Wissens und Erfahrungen einbinden: Was war ein Thunfisch-Sandwich mit Vollkorntoast, mit Salat und Butter, ohne Mayonnaise in Relation zu anderen Dishes auf der amerikanischen Speisekarte der 1960er-Jahre? War die Kombination mit einer Suppe oder Buttermilch gängig? Welche Konnotationen gingen mit dem Thunfisch einher? Welche Konnotationen hinterliess die Marketingkampagne der Firma StarKist in der allgemeinen Bevölkerung, die mit Charlie the Tuna ab 1961 zusätzlich auf ein Maskottchen setzte? Inwiefern steht es für einen weissen, westlichen American Way of Life? Was waren die Dishes, die zu berücksichtigen sind, wenn New York als Kristallisationspunkt verschiedenster Subkulturen betrachtet wird? Welche Zeugnisse sind dazu wo erhalten? Activating Fluxus wird von der Kerngruppe aus dem prozessbasierten Verständnis mit dem Digitalen als drittem Partner und einer eigenen Website beständig weiterentwickelt. Katalysator dieser Forschung ist der Mut, analog zu Fluxus Wiederholung, Freude und das Spielerische eine Rolle spielen zu lassen.
Identical Lunch: Anfänge und Institutionalisierung
Alison Knowles zog 1956 in eine Etage eines Industriegebäudes an der 423 Broadway Street unweit der Canal Street. Nach einem Intermezzo zwischen 1965 und 1972 in Chelsea kehrte sie an die Spring String in SoHo zurück, wo sie bis heute lebt und arbeitet. Während der Zeit in Chelsea teilte sie ihr New Yorker Atelier mit Philip Corner. Aus der Beobachtung heraus, dass sie es sich in der Art einer Noonday Meditation zur Gewohnheit gemacht hatte, jeden Tag bei Riss Foods, einem Diner in Chelsea, das gleiche Menü zum Lunch zu bestellen und zu essen, entwickelten sie 1967 gemeinsam den Score für Identical Lunch. 1970 begann Knowles am CalArts zu unterrichten.
Ein Jahr später, 1971, veröffentlichte sie das Journal of the Identical Lunch in der Nova Broadcast Press in San Francisco. Es besteht aus Scripts mehrerer Performances, die von Knowles organisiert wurden, und handschriftlichen, maschinengeschriebenen Accounts von ihr selbst sowie von Collaborators, teilweise ergänzt durch Fotos mit Comic-ähnlichen Beischriften und Sprechblasen. Informationen über den Wechsel von Personal, Veränderungen im Sortiment kommen darin ebenso vor wie Angaben zu Preisen, Trinkgeld und tagesspezifischen Varianten. Im gleichen Jahr performte sie den Score an verschiedenen Orten in Kalifornien, unter anderem dem Duchamp Festival an der University of Irvine.
Die Tour wurde von der Firma StarKist mit einem Harass Thunfisch in Dosen unterstützt. Die vorerst umfassende Performance von The Identical Lunch mit geladenen Gästen fand 1973 am New Year’s Fluxbanquet statt. Knowles richtete ein Fotostudio ein, dokumentierte die Gäste sowie die Mahlzeiten mit Polaroids. Eine erste, schwarz-weisse Druckausgabe veröffentlichte sie 1971, eine zweite, farbige Edition mit dem StarKist Tuna Logo 1973. Die Edition wurde 1973 in Knowles’ Einzelausstellung in der Galerie Inge Baecker in Bochum gezeigt. Im gleichen Jahr erschien The Identical Lunch by Philip Corner mit einem Foto des Schaufensters von Riss Diner auf dem Cover. Das Tuna Sandwich kostete damals 70 Cent.
The Identical Lunch ist eine historische, sorgfältig dokumentierte Arbeit, bei der Knowles zwei Phasen sorgfältig unterscheidet: eine erste Phase in nächster Nähe zum Alltag und eine zweite Phase mit Reichweiten in die Öffentlichkeit, zu dem auch Sponsoring und Verkauf gehören. Mit dem Logo des Sponsors ist das ökonomische Moment, das sich gleichermassen auf das Produkt wie die Personen bezieht, die in einem exklusiven Setting daran mitgewirkt haben, in den Siebdrucken markiert. Prints beider Editionen befinden sich als Geschenke der Gilbert and Lila Silverman Fluxus Collection in der Sammlung des MoMA. Zuletzt investiere Knowles ihr Honorar, um zu bestimmten Wochen im Januar und Februar 2011 jeweils zwei Besucher*innen im Rahmen der Ausstellung Contemporary Art from the Collection zu einem Identical Lunch ins MoMA Cafe 2 einzuladen.
Auf die Frage nach einem Transfer von The Identical Lunch nach Deutschland, Asien, Afrika oder Südamerika hat Knowles 2012 folgende Überlegungen formuliert: «You would think that in Germany you can find a whole wheat bread. No! The best we could do was a whole wheat baguette. […] In Asia, I did not even try. I had pictures to show, and then I would enjoy what was regional for them. So what connected it to the [Identical] Lunch, was that they could get me a regional tofu soup […] as my lunch had been regional to me.»