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N°4/2024
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Ordnung im Schrank

Ein historischer Rundgang – vom Chorherrenstift Beromünster bis zur Musikbibliothek der HKB – zeigt den Zusammenhang von Musikverständnis und Notensystematik.

Text

geboren 1971 in der Nähe von Mailand, arbeitet für RISM Digital Center und das HKB Institut Interpretation

Wenn ich in einem Bus oder in einem Einkaufszentrum unwillentlich mit Musik berieselt werde, kann ich nicht umhin, diese akustischen Eindrücke innerlich zu kategorisieren. Ist mir der Song unbekannt, so versuche ich sogleich, ihn einem «Genre» oder «Stil» zuzuordnen. Im Bereich der europäischen Kunstmusik ist das System der musikalischen Gattungen ein mächtiges Ordnungsprinzip, das vielschichtig aufgebaut ist und sich im Laufe der Zeit verändern kann. In einer Gattungsdefinition spielen nämlich unterschiedliche Kriterien mit: in erster Linie Besetzung (Streichquartett) und Form (Sonate), Zielpublikum (Jugendalbum) oder Aufführungsumstände (Serenade, Notturno). Der Systemcharakter ist aber immer gegeben, denn kein Musikwerk kann völlig ausserhalb dieser Kategorien existieren.
Auch in meinen Notenschrank möchte ich grundsätzlich eine gewisse Ordnung bringen. Partituren nach der Farbe ihrer Umschläge zu sortieren, würde ich eher nicht vorschlagen, doch stehen grundsätzlich viele Möglichkeiten offen. Die Geschlossenheit des Systems wird dennoch vorausgesetzt, denn eine Schublade mit «Verschiedenes» wäre beim Ordnen das Eingeständnis einer Niederlage. Geschriebene und gedruckte Noten ordnen wir vor allem mit dem Ziel, sie bei Bedarf schnell wiederfinden zu können. Das erfordert eine allgemeine Verständlichkeit der gewählten Kategorisierung. Wegen dieses praktischen Charakters geben uns Ordnungsprinzipien oft Einblicke in das Musikverständnis der jeweils dafür verantwortlichen Personen.

Messen am Vormittag
Traditionell wurden Musikalien nicht in einer Bibliothek, sondern in einem Notenschrank am Ort der Aufführung versorgt, auf der Orgelempore in einer Kirche oder in einer Ecke des Musikzimmers eines bürgerlichen Hauses. Im Chorherrenstift Beromünster waren zum Beispiel im 17. Jahrhundert die Musikalien im Notenschrank nach der Tageszeit geordnet. Das Inventar aus dem Jahre 1696 (Stiftsarchiv Beromünster, Bd. 1206) trägt den treffenden Titel Bonus ordo musicus (Die gute Musik-Ordnung) und beinhaltet zur schnellen Orientierung eine topografische Karte des Notenschranks. Im oberen Regal und im linken Flügel des Schrankes liegen die Messen für den Gebrauch am Vormittag, im untersten Regal und im rechten Flügel die Noten für die Vesper am Nachmittag.
Die mit über 1300 Werken wohl grösste Privatsammlung der Schweiz aus dem 18. Jahrhundert trug der Basler Seidenbandfabrikant Lukas Sarasin (1730 – 1802) während über vier Jahrzehnten zusammen. Etwa ein Drittel dieser Sammlung liegt noch heute in der Universitätsbibliothek Basel, den Rest kennen wir dank einem sauber geführten Katalog (Universitätsbibliothek Basel, HKun d III 9, www.doi.org/10.7891/e-manuscripta-13836). Jede Musikalie trägt eine Nummer. Die Noten wurden wohl in der Reihenfolge ihres Ankaufs nummeriert und vermutlich so auch aufgestellt. Umso wichtiger war der Katalog, um «geschwind zu suchen», wie es im Register heisst. Im Katalog sind die Werke nämlich systematisch, nach Gattung und Besetzung, geordnet: «Overture» (und Symphonien, also Orchesterwerke), «Quattro» (vor allem Streichquartette), «Quintetti», «Trio» (vor allem Triosonaten) und so weiter bis «Arie, Duetti, Terzetti» für verschiedene Solostimmen. Zweck der Sammeltätigkeit war die Aufführung dieser Werke in privaten und zunehmend in öffentlichen Konzerten, daher der dem Kriterium der Besetzung eingeräumte Vorrang. Die allmähliche Entwicklung eines öffentlichen Musiklebens in der Schweiz um 1800 zeigt in einem Forschungsvermittlungsprojekt der HKB und der Université de Genève derzeit die Wanderausstellung Vom Musikzimmer in den Konzertsaal (hkb-interpretation.ch/projekte/sarasin). In diesem Zusammenhang wird auch eine virtuelle Rekonstruktion der zerstreuten Sammlung angestrebt.

Neapolitanische Schule
Parallel zum öffentlichen Konzertwesen entstanden in Europa auch die ersten öffentlichen Notenbibliotheken, und zwar in den damals führenden Ausbildungszentren, den Konservatorien von Neapel und Paris. Giuseppe Sigismondo (1739 – 1826) war der erste «archivario» der 1795 gegründeten Musikbibliothek in Neapel, deren Katalog 1801 gedruckt wurde (u. a. erhalten in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 48030-C; vgl. neapolitancanon.hkb.bfh.ch). Die Werke sind darin alphabetisch nach dem Namen der (durchwegs männlichen) Komponisten oder nach dem Titel geordnet, über ein allfälliges Signaturensystem erfahren wir jedoch nichts. Das widerspiegelt das vorherrschende Interesse Sigismondos, der sich als Hüter der ruhmreichen Musiktradition seiner Stadt betrachtete und mit «seiner» Bibliothek wesentlich zur Schaffung eines Kanons der «neapolitanischen Schule» beitrug.
Nicolas Roze (1745 – 1819) war nicht der erste Bibliothekar im Pariser Conservatoire, doch verfasste er 1807 den ältesten erhaltenen Katalog der Musiksammlung (Paris, Bibliothèque nationale, VM Fonds 1 ADC-4:1-2). Praxisnah begann er mit der Aufzählung der «ouvrages élémentaires» für Gesang und für jedes Instrument, bevor er alphabetisch mit den Komponisten fortfuhr. (Frauen waren in Paris zwar als Studentinnen zugelassen, aber kaum als Autorinnen vertreten.) Wesentlich ist dabei, dass auch diese Bestände primär dem Studium und der Repertoirekenntnis dienten und – im Gegensatz zu den kirchlichen oder bürgerlichen Sammlungen – nicht zwingend einer Aufführung. Musik war mittlerweile ein anerkanntes Kulturgut gewordenAls die Bernische Musikgesellschaft 1858 zur Sicherung des Nachwuchses die erste öffentliche Musikschule der Stadt gründete, waren die Regale bereits mit Noten gefüllt. Die rege Konzerttätigkeit seit der Gründung 1815 hatte eine Ansammlung des Aufführungsmaterials für die programmierten Werke zur Folge, wie zwei erhaltene Kataloge bezeugen (Burgerbibliothek Bern, GA BMG 91 und 92), teilweise mit Eintragungen des Konzert- und Musikschuldirektors Adolf Reichel (1816 – 1896). Vermutlich eigens für die Bedürfnisse der Schüler*innen entstand zusätzlich dazu die ausdrücklich sogenannte «Studien-Bibliothek der Bernischen Musikgesellschaft», deren Bestände  –  genuin nach Art einer Konservatoriumsbibliothek  –  nicht primär für eine öffentliche Aufführung gedacht waren.Vor der Jahrhundertwende kamen einige Musikalien aus der 1808 in Luzern gegründeten und 1891 aufgelösten Schweizerischen Musikgesellschaft hinzu. Im heutigen Bestand der Musikbibliothek der HKB können die Noten ihrer Vorgängerinstitutionen dank den entsprechenden Stempeln erkannt werden.1+2 Später kamen grössere Schenkungen von Direktoren wie Carl Munzinger (1842 – 1911) und Richard Sturzenegger (1905 – 1976) hinzu. Diese Schenkungen sowie weitere Noten aus dem Besitz von zeitweise in der Schweiz oder in Bern selbst tätigen Musiker*innen, beispielsweise Hermann Hans Wetzler (1870 – 1943) oder Paul Klecki (1900 – 1973), wurden, wie damals üblich, auf verschiedene Signaturgruppen aufgeteilt und nicht als Einheit zusammen behalten.3

Zukunft im Campus
Vielleicht schon 1927 bei der Neugründung als Konservatorium oder spätestens 1938/40 beim Einzug in den Neubau an der Kramgasse 36 waren nämlich moderne Magazinsignaturen angebracht worden. Die ordnenden Prinzipien waren dabei eine Mischung aus Besetzung und physischer Ausgabeform (Partituren unter «P», Klavierauszüge unter «Ka», Chorstimmen unter «Ch»). Anfang der Nullerjahre des 21. Jahrhunderts wurde beim Umzug in die Papiermühlestrasse 13a für die neueren Musikalien eine Freihandaufstellung eingeführt, das alte Signatursystem dagegen für die älteren Magazinbestände belassen. Von diesem Bestand, der sich in den ersten rund hundert Jahren seiner Existenz angesammelt hat, muss sich die Musikbibliothek der HKB aus verschiedenen Gründen vor dem nächsten Umzug in den Campus Bern auf dem Areal Weyermannshaus trennen: Er hat heute keine praktische Bedeutung mehr, sondern nur mehr einen historischen Wert.

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