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N°4/2024
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Was bedeutet für dich Ordnungssystem?

Un/Ordnung in den künstlerischen Disziplinen: Was zählt, das Fach oder Bologna? Was bedeutet für dich Ordnungssystem? Wie gehst du in deinem (Fach-)Bereich mit Ordnungssystemen um? Welche Ordnungssysteme wirken in deinem Fach? Die (Fach-)Bereichsleitenden der HKB geben Auskunft und Einblick über ihre Ordnungen.

 

Prof. Rico Max Gubler, Leiter Fachbereich Musik
Die einen sagen: Vor Ordnung – Augias sei mein Zeuge – habe ich gleichermassen Angst und Respekt, wie mich die Sehnsucht nach ihr verzehrt.
Die anderen sagen: Ordnung ist ein Gefühl, das sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass dessen Subjektivität am schwierigsten zu akzeptieren ist.

 

Prof. Dr. Andi Schoon, Co-Leiter Y Institut
Als Michel Foucault 1966 sein Buch Die Ordnung der Dinge veröffentlichte, ging es ihm um Prozesse, die unbewusst im Hintergrund laufen, aber einen grossen Einfluss auf unser Denken und Sprechen haben. Diese Grundannahme ist für das Y Institut zentral, weil wir davon ausgehen, dass jede Kunstpraxis gewisse Automatismen in sich trägt. Geht kaum anders, und Routinen sind auch nicht unbedingt schlecht. Aber es kann aufschlussreich sein, die eigenen Konventionen gelegentlich mit denen der anderen zu konfrontieren. Deshalb werden in unseren Vorlesungen oft die Künste miteinander verglichen, und aus diesem Grund suchen wir nach sinnvollen Wegen, Studierende aus verschiedenen Fachbereichen in gemeinsame Situationen zu bringen.Der Ordnungsbegriff, um den sich diese Ausgabe der HKB-Zeitung dreht, hat mich noch auf andere Weise beschäftigt: Meiner Doktorarbeit habe ich vor Jahren den vielleicht etwas anmassenden Titel Die Ordnung der Klänge gegeben. Es geht darin um musikalische Prinzipien in der bildenden Kunst. Als sich die Malerei im frühen 20. Jahrhundert der Abstraktion zuwandte, kam die Idee auf, das ebenfalls abstrakte System der Musiktheorie könne an die Stelle der äusseren Welt treten. In der Folge fanden Variationen geometrischer Formen auf die Leinwände, oft mit musikalischen Anspielungen im Titel (Fuge, Komposition, Symphonie etc.). Diese Episode der Kulturgeschichte hat mich nie ganz losgelassen. Wird wohl auch nicht passieren, solange ich an der HKB arbeite.

 

Prof. Dr. Nina Mekacher, Fachbereichsleiterin Konservierung und Restaurierung
Meine tägliche Arbeit bei der HKB betrifft weniger mein Fach, die Konservierung und Restaurierung, als vielmehr Leitung und Administration. Diese sind durchdrungen von Ordnungssystemen: Mannigfache Reglemente, Prozesse, Workflows und Strukturierungen dienen dazu, Ordnung zu schaffen und Ordnung durchzusetzen – dennoch schafft es das Chaos immer mal wieder, sich zu manifestieren, und das ist gut so!

 

Felicity Lunn, Fachbereichsleiterin Gestaltung und Kunst
Der Fachbereich Gestaltung und Kunst besteht aus sehr diversen Studiengängen mit unterschiedlichen Umgängen mit Ordnung und Unordnung. In der visuellen Kommunikation, dem Journalismus oder der Kunstvermittlung wird die eigene Kreativität von Dienstleistungsansprüchen, Gestaltungskonventionen oder gesellschaftlichen Strukturen umrahmt. Die «freie» Kunstausbildung wird auf der anderen Seite von der in der Kunst inhärenten Lust nach Regelbruch und der Infragestellung von Sehgewohnheiten geprägt. Was alle Fächer beziehungsweise Berufe in unserem Fachbereich möglicherweise verbindet, ist, dass Ordnung und Unordnung immer wieder befragt und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Schliesslich steht die Bildung in einem dynamischen Wechselverhältnis mit anderen Wertesystemen – technologisch, ökonomisch oder auch politisch – in der Gesellschaft.

 

Sibylle Matt Robert, Leiterin Weiterbildung
There and back again: Weiterbildung ist die lebenslange Auflehnung gegen die geistige Entropie. Sie entfaltet den Raum, um im Chaos Strukturen zu erkennen.

 

Dr. Thomas Gartmann, Leiter HKB-Forschung und Doktoratsprogramm Studies in the Arts SINTA
Wie ordne, priorisiere, strukturiere ich meine Daten, Analyseresultate, Interviewzitate, Dokumentenausschnitte, Messreihen, Cultural Probes und andere Fundstücke und Daten, Gedanken, Ideen, Assoziationen und weitere Erkenntnisse so, dass sie wiederholbar und nachvollziehbar sind, Zusammenhänge und Querbeziehungen aufzeigen, in einer sinnvollen und attraktiven Dramaturgie vorgestellt und – vor allem – lesbar werden?Kreative Unordnung ermöglicht, komplexe Verflechtungen zu spiegeln, vom normativen Denken und Schubladisieren wegzukommen und sich zu öffnen für Partnerschaften mit scheinbar entfernten Disziplinen, für ungewohnte Vorgehensweisen, eigenentwickelte Methoden und Modelle wie auch neue Ansichten, die Spannungen, ja Konflikte mit bestehenden Ordnungssystemen aushalten müssen.

 

Dr. Leonie Achtnich, Leiterin Schweizerisches Literaturinstitut
Literatur hat so viele Ordnungssysteme wie Texte Jeder erste Satz schafft eine neue Ordnung Als Lesende sind wir für die Dauer eines Romans eines Gedichts einer Performance eines Theaterstückes eines literarischen Spaziergangs gewillt dieser Ordnung zu folgen selbst wenn sie unserem eigenen Ordnungsgefühl entgegensteht und uns stört Literatur ist unberechenbar Manche Texte wechseln mittendrin ihr Vorzeichen überraschen schlagen einen Haken behaupten ihr Gegenteil In gegenwärtigen literarischen Welten ist vieles möglich Ordnung halten und nicht halten kleinkariert denken oder in Rhizomen im weiten Bogen oder nach dem Rhythmus der Wellen schreiben Gattungen bedienen oder Unerhörtes wagen mit anderen Künsten zusammenarbeiten oder für sich stehen Eigenes Geliehenes oder Erfundenes erzählen grammatische Regeln einhalten auf Satzzeichen verzichten oder gleich Ordnung jede auf.Die Frage ist nicht, welchen Ordnungssystemen ein literarischer Text folgt, sondern wie und auf welche Weise er das tut. Dieser Frage widmen wir uns im Studiengang Literarisches Schreiben immer wieder aufs Neue, und wir finden neue und überraschende, aber nie endgültige Antworten. Um für diese offen zu sein, braucht es sowohl Experimentierfreude als auch Kritikfähigkeit – und einen Raum, der beides fördert und ermöglicht.

La littérature connaît autant de systèmes que de textes Chaque texte crée son propre ordre Comme lecteur·tice·sx nous acceptons pour la durée d’un roman d’un poème d’une performance d’une pièce de théâtre d’une promenade littéraire de suivre cet ordre même s’il contredit notre propre compréhension de l’ordre et nous dérange La littérature est imprévisible quelques textes changent de signe en cours de route font un crochet affirment leur contraire Les mondes littéraires contemporains offrent beaucoup de possibilités on peut garder l’ordre ou le détruire penser petit ou en rhizomes faire un grand détour ou écrire au rythme des vagues étudier les genres ou en définir un nouveau collaborer avec d’autres disciplines ou rester seul·ex raconter ses propres histoires, des histoires empruntées ou inventées suivre les règles grammaticales, ou renoncer à la ponctuation ou ordre bien à importe n’quel.La question n’est pas de savoir quel ordre un texte suit, mais comment et de quelle manière il le fait. Cette question est au centre de la formation en Écriture littéraire. Nous ne cessons de la poser et de trouver d’autres réponses, jamais définitives. Pour être ouvert·ex à toutes les réponses, il faut avoir le goût de l’expérimentation et le sens de la critique, ainsi qu’un espace prêt à accueillir les deux.

 

Florian Reichert, Fachbereichsleiter Theater

Wenn das Jenseits bedeutet, es muss eine Welt geben, die besser ist als dieses Jammertal, dann sollte diese Welt schon mindestens ein wenig fehlerfrei sein.

Ordnung steht nicht ganz vorne auf der Wunschliste für ein besseres Jenseits. Da ist mehr so ein Schweben, eine Schwerelosigkeit. Eine Schwereloslassigkeit. Fliegen ist wichtig. Flügel sind wichtig. Denn die Erde ist voll, also muss, was später kommt, im Himmelreich stattfinden … Kirchen wurden in die Höhe gebaut, Ordnungssysteme heben nicht wirklich ab.

Jetzt her mit dem Gedicht
Ein richtig schlechtes Gedicht
Eines, das gar kein gutes Gedicht sein will
So wie es Menschen gibt
Die eine Freude daran verspüren
Sich nicht nur schlecht aufzuführen
Sondern wirklich schlecht zu sein
Erst dann lassen sie es gut sein
Dann werden sie fast freundlich
Aber da musst du erst mal durch

Ich bin ein Ordnungssystem
Ich bin dein Organigramm
Dein Stammbaum
Ich bin deine Autobahneinfahrt
Du sollst keine
Ich bin deine Autobahnausfahrt
Du sollst keine anderen
Ich bin dein Autobahnkreuz
Du sollst keine anderen Kreuze neben mir
Von mir aus auch dein Hängeregister
Deine digitale Ordnerablage
Ich bin die Tafel der chemischen Elemente
Ich bin dein Alphabet
Deine Enzyklopädie von A bis Z
Dein Inhaltverzeichnis
Dein Schach, dein Puzzle, dein Roulette
Dein Kalender und dein Einkaufszettel
Dein Quintenzirkel
Deine Zwölftonfolge
Dein Halb-, dein Viertel-, dein Achteltontyrann
Dein Warenhaus über vier Etagen
Und die Dauer deines Aufenthalts
Im Gefängnis, im Hallenbad und an deinem Arbeitsplatz
Ich bin dein Tag und deine Nacht
Deine sieben Tage pro Woche
Deine 52 Wochen pro Jahr bis zu deinem bitteren Ende
Endlos und endlos weit darüber hinaus
Ich bin alle Jahre, die du nicht lebst
Und es wird viel mehr Jahre geben, die du nicht gelebt hast
Als solche, die du gelebt hast
Und so gibt es viel mehr Jahre ohne dich als mit dir

Du glaubst, du nutzt mich, um dein Lebelchen zu organisieren
Dabei bist du ein Grashalm
Ob auf der Wiese eines Allmächtigen
Oder auf irgendeinem Kunstrasen im Hallenstadion
(Was soll da der Unterschied sein?)
Wenn ein Zinken meines grossen Rechens dich einmal berührt
Dann ist das dein Leben
Dann war’s das
Dieses immer wieder Einkaufengehen, bis dann …
Und dann nie wieder
Bis ans Ende aller Tage und aller Nächte
Dieses Ende, das für mich eine kleine interessante Abwechslung sein wird
Während du versuchst, mich zu benennen
Wenigstens benennen
Wenn du schon nichts gegen mich tun kannst
Weltuntergangszenarien zum Beispiel
Aber das ist aus der Mode
Jetzt: «Dystopie»
Das ist dein neuerster (Auf-)Schrei
Wie oft ich das höre
Die Worte wechseln wie Frisuren oder die Länge von Hosen und Röcken
Aber der Trick funktioniert nicht
Was kommt, das kommt
Und kümmert sich nicht darum, wie du es gerade nennst
Die zehn Gebote trägt Moses den Berg hinunter
Heute kannst du das gesamte Gesetzeswerk aller Staaten der Welt
Plus Kommentare, alle Gebrauchsanweisungen und Rezepte
Garantieerklärungen und Kauf-, Versicherungs- und andere Verträge
Park- und alle anderen Verbote
Testamente, Urkunden, Zertifikate, Wertpapiere
Und wertloses Papier
Alles!
Auf einer kleinen Diskette
In der Seitentasche deines Multifunktionshemdchens
Das auch wieder ein Ordnungssystem ist
Den Berg auch wieder rauftragen
Aber da wartet kein Gott
Da nimmt niemand nichts zurück

Ich bin
Deine Y-Achse der Menge
Und deine X-Achse der Zeit
Ich bin nicht die Zeit, aber deine Uhr
Und die läuft ab
Ich laufe dich ab
Dass du stirbst, ist Teil des Vertrags
Den du nie unterzeichnet hast
Es genügt, dass ich unterschreibe
Und raus bist du!
Das Zifferblatt mit den Zeigern
Deine Digitalanzeige
Und deine Gesundheitsapp mit Schrittmesser
Dein Atlas, deine Landkarte
Deine Höhenlinie
Dein Fieberthermometer, bis du verkochst
Ich vermesse das
Ich zeige Temperaturen an
Da bist du schon tot und kannst nicht mehr lesen
Bei welcher Temperatur du den Abgang gemacht hast
Das hast du erfunden, du und deine Brüder und Schwestern
Nicht ich
Und wehe, wenn nicht
Dann Strafe Sühne Schuld Schulden Reue Ächtung Verachtung Verbannung Tod
Ich bin deine Gewichtstabelle
Deine Schuhgrösse
Der Massstab deiner Schuldgefühle
Ich bin deine Roadmap und dein Businessplan
Ich bin dein Zebrastreifen und deine Radarfalle
Ich bin die Pflanzenbestimmungsapp
Ich bin die Käfer, die du auf Nadeln steckst
Damit du Zeit hast, sie zu benennen
Weil es dich nervös macht, wenn sie weglaufen. Ständig
Weil es dich nervös macht, wenn du keine Namen hast für sie
Hordenfluchtkrabsler – oder so was
Natürlich kann ich auch Qualitätsmanagement
Fahrplan kann ich
Und Dinge, von denen nur wenige wissen
Und die wenigen verraten nicht
Dass sie alle anderen damit in Reihen aufstellen
Mit Musik und Tschingderassabum
Ohne dass sie es merken
Auch du merkst das nicht
In welchem Bataillon du stehst
Und welchen Kampf du kämpfst

Ich bin dein Scheitern
Wie solltest du scheitern ohne mich?
Und noch schlimmer: Wie sollte
Dein Nachbar, deine Vorgesetzte, dein Mann, deine Frau
Dein Bruder, deine Tochter, dein Vater, deine Bundeskanzlerin
Deine Gebrauchtwagenhändlerin, dein Spitexpfleger
Scheitern ohne mich? Ohne uns?
Und das willst du doch
Und er auch und sie auch
Wie wolltet ihr denn scheitern ohne mich?
Hast du schon jemals etwas so wundervoll zusammenbrechen sehen?
Und so erfindest du mich immer wieder neu
Du bist clever, denn du hast gemerkt
Du kannst das Heranreifen zum Tod
Nicht nur mit statischen Ordnungssystemen begleiten
Und erfindest dann auch dynamische Ordnungssysteme
Da löst du das Ticket im Flug
Du könntest leben ohne mich
Aber du ziehst es vor, das und dein Scheitern zu vermessen
Das ist ein Tick
Das stirbt aus mit dir
Und dass du ausstirbst
Das ist gewiss
Nichts ist für die Ewigkeit
Ich weiss auch, wann
Aber das sag ich nicht
Es geht noch länger, als du denkst
Aber lang ist das noch lange nicht
Du denkst die ganze Zeit
Aber die ganze Zeit ist eben nicht automatisch lang
Dabei gäbe es mich, uns nicht ohne dich, ohne euch
Du willst versklaven und meinst, dazu könntest du dich meiner bedienen
Und merkst nicht, dass du Sklave sein willst
Du betreibst das Versklaven wie ein Sklave
Ohne Lohn und ohne Brot
Du hast uns erfunden, damit wir dir sagen
Befehlen
Wo’s hingeht
Wo’s weitergeht
Mehr tun wir nicht
Und du machst keinen Mucks ohne uns …

Die Ordnungssysteme und du
Das ist die Geschichte einer gegenseitigen gründlichen Enttäuschung
Du hast mehr von mir erwartet und ich mehr von dir

Ich dachte: Gut, ich bin das Ordnungssystem
Du machst mich und dann hast du deinen Überblick
Und wenn du dann durch mich zu deinem Überblick gekommen bist
Dann machst du was Tolles
Dann geht’s ab
Dann geschieht etwas Grosses
Dann ändert sich etwas
Damit alles gut wird

Du dachtest: Gut, du bist das Ordnungssystem
Durch dich bekomme ich einen Überblick
Und wenn ich dann zu einem Überblick gekommen bin
Dann mach ich was Tolles
Dann geht’s ab
Dann geschieht etwas Grosses
Dann ändert sich etwas
Damit alles gut wird

Und so werden wir Teil von etwas Grossem
Aber es geschah nichts Grosses
Nichts Kleines
Nichts
Wir waren zufrieden miteinander
Wir haben Angst davor, über uns hinauszuwachsen
Und so hängen wir sinnlos rum
In einer vermessenen vermasselten Welt
Wir passen auf, dass nichts geschieht
Damit uns nichts geschieht

Und plötzlich stand ich am Meer

Das Meer sagte
Komm, komm und ruh dich aus
Und als ich ausgeruht hatte
Schaute es mich an und fragte
«Was willst du denn mal werden, wenn du gross bist?»
Aber bevor ich antworten konnte, war ich schon …
Etwas kam mir in den Sinn. Einfach so

Was, spielt keine Rolle, aber dass …

Die Ordnungssysteme schliefen in vertäuten Booten
Die vor sich hindümpelten
Und ich schwamm raus
So etwas geht?
Ist das erlaubt?

Erinnerst du dich, wann du dich selbst das letzte Mal und aus eigener Kraft
überrascht hast?