Meret Lüthi
Die Violinistin Meret Lüthi lehrt Barockvioline, historische Aufführungspraxis und Kammermusik an der HKB und ist künstlerische Leiterin von Les Passions de l’Âme. Das Orchester für Alte Musik Bern wurde vor 16 Jahren im Umkreis der HKB gegründet. Preise und Auszeichnungen belegen seinen anhaltenden Erfolg. Dieses Jahr erhält Meret Lüthi den renommierten «Goldenen Bogen» der Geigenbauschule Brienz. Geehrt wird sie für den Aufbau des inzwischen international renommierten Klangkörpers, für ihr Engagement zugunsten der historischen Aufführungspraxis und dafür, dass sie dieses mit dem Publikum teilt.
Musikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie arbeitet unter anderem als Kulturjournalistin beim Bieler Tagblatt.
Zum Stichwort «historische Aufführungspraxis» fällt einem Franz Schubert nicht als Erstes ein. Beethoven schon eher. Bach und Händel ohne Zweifel. Heinrich Ignaz Franz Biber nur Eingeweihten. Meret Lüthi, Leiterin von Les Passions de l’Âme, dem Orchester für Alte Musik Bern und Lehrperson an der HKB für Barockvioline, historische Aufführungspraxis und Kammermusik, kennt indes keine stilistischen Grenzen, wenn es darum geht, den historischen Kontext eines Werks zu erforschen und es auf dieser Basis zu interpretieren oder zu vermitteln. Der Prozess der Aneignung eines Musikstücks ist für sie stets derselbe. Zuerst steht das Quellenstudium. Noten, Manuskripte, Bücher. Dazu gehört auch das Gespräch mit Fachpersonen.
«Dabei entwickle ich eine Vision, wie etwas zu tönen hat. Dann geht es darum, diese zu erarbeiten und schliesslich zu teilen.» Das gilt auch für Schubert. Dem langsamen Satz aus seinem spätem Es-Dur-Klaviertrio, den Meret Lüthi an diesem Nachmittag an der HKB mit einem Klaviertrio erarbeitet, liegt ein schwedisches Volkslied zugrunde. Sie habe die drei Musiker vor dem Unterricht gefragt, ob sie es sich angehört haben, sagt sie. Das sei wichtig fürs Verständnis dieser Musik. Schubert sei auch lebenslustig und humorvoll gewesen. Das müsse auch in diesem zutiefst melancholischen Satz zum Ausdruck kommen.
Vordringen bis ins Detail
Meret Lüthi hat das Klaviertrio von Schubert einst selbst gespielt. Nach dem klassischen Violinstudium an der HKB bei Monika Urbaniak und Eva Zurbrügg vertiefte sie sich in Kammermusik bei Walter Levin in Basel. Dann wandte sie sich der Barockvioline zu. Heute ist die bald 46-Jährige eine gefragte Spezialistin für historische Aufführungspraxis, sei es als Solistin, als Orchesterleiterin, als Lehrperson oder auch als Diskussionspartnerin in Rundfunksendungen. Anfangs ging es ihr vor alle darum, unbekannte Partituren einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Biber, Fux, Schmelzer, lauten die Namen solcher barocken Meister. Die Erkenntnisse ihrer angewandten Forschungsarbeiten überträgt sie wenn immer möglich auf ihre neuen Vorhaben. Inzwischen hat sie den historischen Interpretationsansatz auf Beethoven ausgedehnt. Ihre Musizierhaltung bleibt dabei immer gleich: «Mir ist eine fundierte, engagierte und verbindliche Arbeitsweise wichtig. Ich möchte die Sinne auf genaues Wahrnehmen schärfen und dringe gerne bis ins mikroskopische Detail vor.» Das lässt sich auch auf Schubert übertragen. «Halte etwas inne, bevor du das tiefe C spielst», sagt sie der Cellistin. «Du erhöhst damit seine überraschende Wirkung. Du musst das Glück vorbereiten.»
Vom Staub der Jahrhunderte befreit
Die Berner Violinistin weiss nur zu gut, dass Glück oder gar Erfolg nicht selbstverständlich, sondern Lohn mitunter harter Arbeit ist. Vor 16 Jahren hatte sie mit einer Handvoll HKB-Absolvent*innen Les Passions de l’Âme, das Orchester für Alte Musik Bern gegründet mit dem Ziel, barocke Orchesterliteratur befreit vom angesammelten Staub der Jahrhunderte in Bern zu präsentieren. Heute tritt das von Meret Lüthi als Konzertmeisterin geleitete Ensemble an international einschlägigen Festivals auf: Tage für Alte Musik Regensburg, Festival of Baroque Music in London, Early Music Festival in Stockholm. CD-Produktionen mit knackigen Titeln wie Spicy, Bewitched oder Schabernack säumen die Erfolgsgeschichte des Klangkörpers. Einige erhielten renommierte Preise wie den «Diapason d’or» oder den «Opus Klassik».Vergangenes Jahr wurde die Einspielung der Rosenkranzsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber vom französischen Fachmagazin Classica mit dem «choc de l’année» ausgezeichnet. Ein Lohn für intensive Arbeit. Meret Lüthi hatte sich über zwanzig Jahre lang mit Bibers Musik beschäftigt, bevor sie dieses geigerische Nonplusultra des späten 17. Jahrhunderts integral im Konzertsaal und auf CD präsentiert hat. Dieses Jahr erhält die Musikerin eine weitere bedeutende Auszeichnung: den «Goldenen Bogen» der Geigenbauschule in Brienz. Sie wird für die Aufbauarbeit des Orchesters geehrt und dafür, dass sie das Publikum «an ihrem beeindruckenden Ideenreichtum und den mitreissenden Programmen teilhaben lässt», wie es heisst.
Das Publikum verhilft zum Glück auf der Bühne
Was bedeutet ihr diese Auszeichnung, die vor ihr so renommierte Musiker*innen wie Thomas Zehetmair oder das Quatuor Ebène erhalten haben? «Sie bestätigt mir, dass es der richtige Weg ist, den ich gehe. Und sie erlaubt mir eine
Atempause.» Hinter dem Erfolg stecke ein grosser künstlerischer und administrativer Einsatz. Nachtarbeit ist für die zweifache Mutter keine Ausnahme. «Es braucht viel Kraft, meine musikalischen Orchesterträume und Visionen immer wieder unabhängig von budgetären Zwängen weiterzuentwickeln.»Tatsächlich ist das Orchester aktiver denn je. Die «Leidenschaften der Seele», so die wörtliche Übersetzung des Namens, haben sich inzwischen zu einer Marke mit ganz unterschiedlichen Angeboten entwickelt. Die «Académie» richtet sich an Musikstudierende. Unter dem Label «Im-Puls» werden gesellschaftsrelevante Themen diskutiert und musikalisch begleitet. Das Orchester bietet Konzerteinführungen und Videos an. Seit einem Jahr betreut es auch ein Amateurorchester. Über alledem steht der Gedanke der Vermittlung. «Ich bin jemand, der gerne teilt», sagt Meret Lüthi. Dem Publikum kommt dabei eine zentrale Rolle zu. «Es ist mitverantwortlich für das Glück, das wir auf der Bühne empfinden. Hören ist genauso wichtig wie Senden.» Meret Lüthi erklärt deshalb dem Berner Publikum anlässlich ihrer Konzerte gerne die programmlichen Hintergründe. «Ich möchte das Publikum auf mein Wissenslevel heben. Alle sind dann gleich gepolt. Das schafft Gemeinschaft und Vertrauen. Ich brauche dieses, damit ich über mich hinauswachsen kann.»
Vielleicht folgt Mendelssohn oder Brahms
Selbst Konzertprogramme entstehen aus Publikumsperspektive. «Vom Salon in den Konzertsaal» heisst eine Berner Konzertreihe. Damit wird der damalige Rezeptionsweg einer Komposition aufgezeigt. Früher lernte man ein neues Orchesterwerk zu Hause als Bearbeitung für Klavier vierhändig kennen. In gehobenen Kreisen, in sogenannten Salons, spielte man es in einer Fassung für Kammermusik. Die originale Partitur gab es erst im Konzertsaal zu hören. Meret Lüthi und ihr Orchester präsentieren auf diese Weise sämtliche Sinfonien Beethovens. Dieses und nächstes Jahr ist die vierte in reduzierter bzw. in voller Besetzung zu erleben. Die neunte ist für das 20-Jahre-Jubiläum des Orchesters geplant. Was folgt anschliessend? «Vielleicht Mendelssohn oder Brahms.» Die Ideen werden Meret Lüthi jedenfalls nicht ausgehen. Doch sie bleibt realistisch und geht mit ihren Ressourcen bewusst um. Gutes Selbstmanagement, nennt sie dies. Und sie bleibt im wörtlichen Sinn geerdet. «Die Zehen müssen sich am Boden festsaugen. Nur so kann der Körper entspannt bleiben.» Das wirkt sich unmittelbar auf das (Klang-)Resultat aus, egal, um welche Musik es sich handelt. Der Cellistin im Unterricht an der HKB sagt sie: «Your body needs to be happy.» Feste Wurzeln ermöglichen zudem freie Gedanken. Auf die Frage nach dem langfristigen Ziel sagt Meret Lüthi, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern: «Le sacre du printemps. Schliesslich ist der ‹Goldene Bogen› ein moderner Bogen.»